Schlagwort: Coming-of-Age

  • Thelma [Review] – hypnotische, übersinnliche Coming-of-Age-Story

    Thelma [Review] – hypnotische, übersinnliche Coming-of-Age-Story

    Thelma (2018)

    Weibliche Coming-of-Age Geschichten verbunden mit Übersinnlichem sind nichts Neues. Regisseur Joachim Trier kreiert mit Thelma aber ein ganz eigenes Werk.

    Als Erstes wäre da die Stimmung. Im Gegensatz zu anderen Werken, wie etwa dem stets agressiv brodelnden Raw (2016), kreiert Trier von den ersten Sekunden an eine stille, einsame Atmosphäre, mit Horror der langsam die Härchen auf den Armen aufstellt.

    Vater und junge Tochter im Wald. Er scheinbar auf der Jagd mit Flinte, sie unschuldig strahlend. Die Tochter dreht sich ab, der Vater schwenkt die Flinte auf ihren Hinterkopf. Schnitt.

    Thelma ist älter, zieht alleine fürs Studium in eine andere Stadt. Die Eltern zwar offensichtlich streng katholisch, aber freundlich. Nur die allabendlichen Telefonate mit der Mutter wirken kontrollierend. Thelma scheint sich dies aber alles gewohnt, fügt sich nahtlos. Bis sie ihre Mitstudentin Anja kennen lernt. Bald trinkt Thelma nicht nur ihre ersten Gläser Alkohol, sondern zwischen ihr und Anja entwickelt sich mehr als Freundschaft. Was die tiefkatholische Thelma nicht nur mit sich selbst in Konflikt bringt.

    Ein Konflikt, der sich sehr real auf der Leinwand zeigt, als Thelma von einer epilepsie-artige Attacke durchgeschüttelt wird. Die erste von vielen, mit immer stärker werden Folgen für Thelmas Umfeld. Diese fängt Trier in ebenso poetisch wie beängstigenden Bilder ein, genauso wie den Rest des Films. Überhaupt setzt er oft auf aussagekräftige, kühle Bilder statt grosse Dialoge.

    Thelma beginnt aus dem elterlich-christlichen Schema auszubrechen, der Film behält jedoch seine Ruhe. Thelma ist scheu und in sich gekehrt. Sie schüttelt diese Eigenschaften nicht plötzlich ab, um sich in schockierend Exzesses zu stürzen. Eine Zurückhaltung, die nur gegen Ende etwas an Kraft vermissen lässt. Dafür wirken auch die Szenen zwischen Thelma und Anja nie als ob man der Sensation wegen von aussen zuschauen würde, obwohl sie zugleich voller Erotik sind.

    Thelmas Realität und Gedanken beginnen sich zu vermischen, manchmal gar im wortwörtlichen Sinn. Unterbewusstes aus der Vergangenheit tritt zu Tage. Die simpel wirkende Geschichte gewinnt an Komplexität. Thelma muss sich mit sich selbst, ihrer Familie, ihrer Vergangenheit und ihren Kräften auseinandersetzen. In ähnlichen Geschichten wie Carrie enden die übersinnlichen Kräfte oft rein destruktiv, aber Thelma ergibt sich nicht einfach dem Sog der Geschehnisse. Und Hauptdarstellerin Eili Harboe trägt dabei alle Emotion der ruhigen Thelma in voller Ausstrahlung auf ihrem Gesicht.

    Fazit
    Thelma ist nicht nur in wunderschönen kühlen Bilder gefilmt, sondern zieht einem auch mit seiner Geschichte und einer grandiose Eili Harboe als Thelma in einen hypnotischen Sog. Ein überaus faszinierender, zugleich ruhiger und kühl-beängstigender, übersinnlicher Coming-of-Age Film.

    4/5 Sterne

    Thelma läuft ab dem 22. März 2018 in den Schweizer Kinos.

    Thelma (2018), Regie: Joachim Trier, Norwegen/Frankreich/Dänemark/Schweden.

     

    (Titelbild: Outside the Box/Motlys AS)

  • Grave / Raw [Review] – blutige Coming-of-Age-Story

    Grave / Raw [Review] – blutige Coming-of-Age-Story

    Grave war der “Schockfilm” 2016 am Cannes Film Festival mit Ohnmachtsabfällen im Publikum. Den Film darauf zu beschränken wäre aber falsch. Tatsächlich nutzt Regisseurin Julia Ducournau Schockmomente sehr präzise, um eine tiefe Coming-Of-Age Geschichte zu erzählen.

    Justine zieht von zu Hause aus, um alleine auf dem Universitätscampus zu leben. Dort setzt sie die Familientradition fort und studiert Veterinärmedizin, wie bereits ihre ältere Schwester. Zum ersten Mal findet sich Justine damit ausserhalb der elterlichen Regeln und als sie beim Ritual für Neustudierende aufgefordert wird Fleisch zu essen, gibt sie dem Druck trotz ihres vegetarischen Elternhauses nach. Was ziemlich banal klingt, entwickelt sich bald zu einem ernsthaften Problem: Justine entwickelt eine zunehmend unkontrollierbare Lust nach Fleisch, menschlichem Fleisch.

    Die Symbolik ist ziemlich eindeutig: Überbehütet aufgewachsene junge Frau testet ihre neue Freiheit aus und schlägt dabei erst recht über die Stränge. Zumal die Eltern nur mit Verboten statt mit Erklärungen gearbeitet haben. Das der erste Auslöser Gruppendruck ist, passt dazu wunderbar.

    Justines ältere Schwester hätte zwar die Möglichkeit dem entgegen zu treten, doch statt der jüngeren zu helfen, sucht sie lieber nach einem Partner-in-Crime und stösst Justine genauso ins kalte Wasser. Mit der Betrachtung einer schwierigen Schwestern-Beziehung erinnert mich Grave beinahe ein wenig an den älteren B-Movie Horror-Kultfilm Ginger Snaps (2000), auch wenn die beiden Filme gerade bezüglich Produktion und Kamera keineswegs vergleichbar sind.

    Dabei nimmt Regisseurin Ducournau den Zuschauer mit in den Kopf von Justine. Strauchelt sie verloren durch eine Party, schwingt die Kamera mit. Schockmomente werden langsam aufgebaut. Die Bilder unterstützen mit einer präzisen Kälte Justines Verlorenheit. Die Cinematographie ist ebenso deutlich passend aufgebaut wie die Geschichte.

    So finden sich in Grave auch gar nicht derart viele brutale Szenen. Ducournau knallt nicht einfach des Schockes wegen möglichst viel Blut in den Film, sie nutzt besagte Szenen stattdessen sehr gezielt, maximiert deren Wirkung.

    Dabei vermischt sich Justines ungewöhnliche Lust nach wortwörtlichem Fleisch bald mit der «gewöhnlichen» Lust, ihrer ebenfalls erwachender Sexualität. Und spätestens hier mischt sich eine weitere Zutat in das Spiel: eine ausgezeichnete Portion makabrer Humor. Als ob die eine Luste ohne die andere nicht schon genug kompliziert wäre.

    Der Titel Grave ist dann übrigens auch französisch für „schwerwiegend, gravierend“ und nicht das englische Wort für Grab.

    Und mittendrin natürlich Garance Marillier  als Justine, die sowohl Justines verletzliche Verlorenheit, als auch ihre schlummernde animalische Kraft mit Wucht auf die Leinwand bringt.

    Fazit

    Grave ist eine herausragende, blutig-makabre Coming-of-Age Story mit unzimperlicher, fesselnder Cinematographie.

    5/5 Sterne

    Grave läuft aktuell im Riff Raff Kino in Zürich in französischer Originalsprache mit englischen Untertiteln und ist ab dem 26.10.2017 auf DVD/Blu-Ray/digital erhältlich.

    Grave (2016), Regie: Julia Ducournau, Frankreich.