Grave war der “Schockfilm” 2016 am Cannes Film Festival mit Ohnmachtsabfällen im Publikum. Den Film darauf zu beschränken wäre aber falsch. Tatsächlich nutzt Regisseurin Julia Ducournau Schockmomente sehr präzise, um eine tiefe Coming-Of-Age Geschichte zu erzählen.

Justine zieht von zu Hause aus, um alleine auf dem Universitätscampus zu leben. Dort setzt sie die Familientradition fort und studiert Veterinärmedizin, wie bereits ihre ältere Schwester. Zum ersten Mal findet sich Justine damit ausserhalb der elterlichen Regeln und als sie beim Ritual für Neustudierende aufgefordert wird Fleisch zu essen, gibt sie dem Druck trotz ihres vegetarischen Elternhauses nach. Was ziemlich banal klingt, entwickelt sich bald zu einem ernsthaften Problem: Justine entwickelt eine zunehmend unkontrollierbare Lust nach Fleisch, menschlichem Fleisch.

Die Symbolik ist ziemlich eindeutig: Überbehütet aufgewachsene junge Frau testet ihre neue Freiheit aus und schlägt dabei erst recht über die Stränge. Zumal die Eltern nur mit Verboten statt mit Erklärungen gearbeitet haben. Das der erste Auslöser Gruppendruck ist, passt dazu wunderbar.

Justines ältere Schwester hätte zwar die Möglichkeit dem entgegen zu treten, doch statt der jüngeren zu helfen, sucht sie lieber nach einem Partner-in-Crime und stösst Justine genauso ins kalte Wasser. Mit der Betrachtung einer schwierigen Schwestern-Beziehung erinnert mich Grave beinahe ein wenig an den älteren B-Movie Horror-Kultfilm Ginger Snaps (2000), auch wenn die beiden Filme gerade bezüglich Produktion und Kamera keineswegs vergleichbar sind.

Dabei nimmt Regisseurin Ducournau den Zuschauer mit in den Kopf von Justine. Strauchelt sie verloren durch eine Party, schwingt die Kamera mit. Schockmomente werden langsam aufgebaut. Die Bilder unterstützen mit einer präzisen Kälte Justines Verlorenheit. Die Cinematographie ist ebenso deutlich passend aufgebaut wie die Geschichte.

So finden sich in Grave auch gar nicht derart viele brutale Szenen. Ducournau knallt nicht einfach des Schockes wegen möglichst viel Blut in den Film, sie nutzt besagte Szenen stattdessen sehr gezielt, maximiert deren Wirkung.

Dabei vermischt sich Justines ungewöhnliche Lust nach wortwörtlichem Fleisch bald mit der «gewöhnlichen» Lust, ihrer ebenfalls erwachender Sexualität. Und spätestens hier mischt sich eine weitere Zutat in das Spiel: eine ausgezeichnete Portion makabrer Humor. Als ob die eine Luste ohne die andere nicht schon genug kompliziert wäre.

Der Titel Grave ist dann übrigens auch französisch für „schwerwiegend, gravierend“ und nicht das englische Wort für Grab.

Und mittendrin natürlich Garance Marillier  als Justine, die sowohl Justines verletzliche Verlorenheit, als auch ihre schlummernde animalische Kraft mit Wucht auf die Leinwand bringt.

Fazit

Grave ist eine herausragende, blutig-makabre Coming-of-Age Story mit unzimperlicher, fesselnder Cinematographie.

5/5 Sterne

Grave läuft aktuell im Riff Raff Kino in Zürich in französischer Originalsprache mit englischen Untertiteln und ist ab dem 26.10.2017 auf DVD/Blu-Ray/digital erhältlich.

Grave (2016), Regie: Julia Ducournau, Frankreich.